„Erkenne dich selbst“
stand einst über dem Orakel zu Delphi, dem bedeutendsten Heiligtum des antiken
Griechenlands. „Erkenne dich selbst“ hört sich nicht sonderlich geheimnisvoll
an. Wenn dies die Lösung sein soll, kann das Finden der Antworten doch nicht so
schwierig sein. Schließlich kennen wir uns doch sehr gut. Auch wenn wir hier
und da uns etwas vormachen, mal etwas ausschmücken, mal etwas weglassen, im
Prinzip wissen wir doch sehr gut, wer wir sind. Wenn man uns danach fragt, können
wir, ohne groß zu zögern darauf antworten. Wir kennen unseren Namen, unseren
Wohnort, Familienstand, Beruf, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Stärken
und Schwächen. Bedauerlicherweise ist das, was wir vermeintlich so gut kennen
nur unser Ich und nicht unser Selbst. Wir werden nicht mit einem Ich geboren. Unser Ich wird durch unsere
Wechselwirkung mit der Umwelt, durch Erziehung, Erfahrungen und Erkenntnissen aufgebaut
und ständig verändert. Die ersten Erfahrungen und Erkenntnisse wie ich bin mein
Körper, dies ist mein Name, ich bin ein Junge, ich bin ein Mädchen, ich bin
klug, ich bin dumm, ich bin dies oder ich bin jenes, formen unsere psychische
Identität. Viele dieser Annahmen sind subjektiv und etliche schlichtweg falsch.
Dennoch halten wir diese konstruierte Identität, die wir unser Ich nennen, für
eine unverrückbare Tatsache.
Es ist nicht das Ich, das
unsere Erfahrungen macht. Das Ich selbst ist eine unserer Erfahrungen. Es ist
eng mit dem Leid und Schmerz in unserem Leben verbunden, denn es zeigt uns, was
Einsamkeit ist, wie weh es tut, von allem getrennt zu sein. Denn mit dem Ich entsteht auch das Du, entstehen das andere und die anderen. Wir trennen uns von unserer Umwelt und verlieren unser Einssein mit der uns umgebenden Natur. Weil wir nicht
wissen, was wir wirklich sind, irren wir als einsame, voneinander getrennte
Ichs umher und fürchten uns um unsere Sicherheit. Wir leiden, weil wir den Tod dieser Illusion mit unserem eigenen Tod gleichsetzen. Wir sind nicht unser Körper,
wir sind nicht unsere Wahrnehmungen, wir sind nicht unsere Gefühle, wir sind
nicht unser Verstand und wir sind nicht unser Ich. Wir erkennen uns, wenn wir
in den Spiegel schauen. Doch das Orakel sagt nicht „Erkenne dich“, sondern
„Erkenne dich selbst“. Dazu müssen wir hinter die Oberfläche sehen.
„Erkenne dich selbst“. Die Antworten auf die Frage nach
unserem Sinn des Lebens, werden wir nicht im Außen finden, nicht in heiligen
Schriften, nicht in philosophischen oder wissenschaftlichen Büchern, nicht in
einem Orakel. Alle Antworten auf alle unsere Fragen sind letztlich in uns
selbst zu finden. Wir benötigen kein Orakel. Wir sind
das Orakel, alle Antworten liegen in uns. Wenn wir unser Selbst finden, stehen wir vor dem Tor zu einer höheren Dimension. Wir stehen an der Quelle aller Informationen. Um dorthin zu kommen, müssen wir uns
von der Identifikation mit unserem Ich lösen, müssen es als das erkennen und
akzeptieren, was es ist: ein instabiles, vergängliches mentales Konstrukt, eine, wenn auch äußerst nützliche und unverzichtbare, Illusion.
Das Ich ist die letzte Barriere auf unserem Weg zum Selbst.
Diese Barriere ist stark. Der Weg zum Selbst ist kein Wellness-Urlaub. Das Ich möchte seine Dominanz nicht verlieren. Es wird sich mit allen Kräften wehren, es wird uns den Himmel zeigen, uns Erleuchtung
vorspielen, uns aber auch mit unseren tiefsten Ängsten konfrontieren. Unser Ich zu verlieren, ist unsere größte Angst. Deswegen hören viele an diesem Punkt auf und bleiben vor der Barriere stehen. Doch wir zerstören unser Ich nicht, wir benötigen es noch. Wir verlassen es nur einen kurzen Augenblick und kehren wieder zu ihm zurück. Doch nach unserer Rückkehr ist das Ich nicht mehr unser Herr, sondern unser Freund. Dann werden wir uns ganz anders bewerten und definieren, als wir es bisher gewohnt waren. Die Barriere müssen wir allein durchbrechen. Keiner kann uns dabei helfen. Jeder
muss sein eigenes Selbst, seine eigenen Antworten finden.
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