Donnerstag, 9. Januar 2020

21. Vom Ich zum Selbst

„Erkenne dich selbst“ stand einst über dem Orakel zu Delphi, dem bedeutendsten Heiligtum des antiken Griechenlands. „Erkenne dich selbst“ hört sich nicht sonderlich geheimnisvoll an. Wenn dies die Lösung sein soll, kann das Finden der Antworten doch nicht so schwierig sein. Schließlich kennen wir uns doch sehr gut. Auch wenn wir hier und da uns etwas vormachen, mal etwas ausschmücken, mal etwas weglassen, im Prinzip wissen wir doch sehr gut, wer wir sind. Wenn man uns danach fragt, können wir, ohne groß zu zögern darauf antworten. Wir kennen unseren Namen, unseren Wohnort, Familienstand, Beruf, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Stärken und Schwächen. Bedauerlicherweise ist das, was wir vermeintlich so gut kennen nur unser Ich und nicht unser Selbst. Wir werden nicht mit einem Ich geboren. Unser Ich wird durch unsere Wechselwirkung mit der Umwelt, durch Erziehung, Erfahrungen und Erkenntnissen aufgebaut und ständig verändert. Die ersten Erfahrungen und Erkenntnisse wie ich bin mein Körper, dies ist mein Name, ich bin ein Junge, ich bin ein Mädchen, ich bin klug, ich bin dumm, ich bin dies oder ich bin jenes, formen unsere psychische Identität. Viele dieser Annahmen sind subjektiv und etliche schlichtweg falsch. Dennoch halten wir diese konstruierte Identität, die wir unser Ich nennen, für eine unverrückbare Tatsache. 

Es ist nicht das Ich, das unsere Erfahrungen macht. Das Ich selbst ist eine unserer Erfahrungen. Es ist eng mit dem Leid und Schmerz in unserem Leben verbunden, denn es zeigt uns, was Einsamkeit ist, wie weh es tut, von allem getrennt zu sein. Denn mit dem Ich entsteht auch das Du, entstehen das andere und die anderen. Wir trennen uns von unserer Umwelt und verlieren unser Einssein mit der uns umgebenden Natur. Weil wir nicht wissen, was wir wirklich sind, irren wir als einsame, voneinander getrennte Ichs umher und fürchten uns um unsere Sicherheit. Wir leiden, weil wir den Tod dieser Illusion mit unserem eigenen Tod gleichsetzen. Wir sind nicht unser Körper, wir sind nicht unsere Wahrnehmungen, wir sind nicht unsere Gefühle, wir sind nicht unser Verstand und wir sind nicht unser Ich. Wir erkennen uns, wenn wir in den Spiegel schauen. Doch das Orakel sagt nicht „Erkenne dich“, sondern „Erkenne dich selbst“. Dazu müssen wir hinter die Oberfläche sehen.

„Erkenne dich selbst“. Die Antworten auf die Frage nach unserem Sinn des Lebens, werden wir nicht im Außen finden, nicht in heiligen Schriften, nicht in philosophischen oder wissenschaftlichen Büchern, nicht in einem Orakel. Alle Antworten auf alle unsere Fragen sind letztlich in uns selbst zu finden. Wir benötigen kein Orakel. Wir sind das Orakel, alle Antworten liegen in uns. Wenn wir unser Selbst finden, stehen wir vor dem Tor zu einer höheren Dimension. Wir stehen an der Quelle aller Informationen. Um dorthin zu kommen, müssen wir uns von der Identifikation mit unserem Ich lösen, müssen es als das erkennen und akzeptieren, was es ist: ein instabiles, vergängliches mentales Konstrukt, eine, wenn auch äußerst nützliche und unverzichtbare, Illusion.

Das Ich ist die letzte Barriere auf unserem Weg zum Selbst. Diese Barriere ist stark. Der Weg zum Selbst ist kein Wellness-Urlaub. Das Ich möchte seine Dominanz nicht verlieren. Es wird sich mit allen Kräften wehren, es wird uns den Himmel zeigen, uns Erleuchtung vorspielen, uns aber auch mit unseren tiefsten Ängsten konfrontieren. Unser Ich zu verlieren, ist unsere größte Angst. Deswegen hören viele an diesem Punkt auf und bleiben vor der Barriere stehen. Doch wir zerstören unser Ich nicht, wir benötigen es noch. Wir verlassen es nur einen kurzen Augenblick und kehren wieder zu ihm zurück. Doch nach unserer Rückkehr ist das Ich nicht mehr unser Herr, sondern unser Freund. Dann werden wir uns ganz anders bewerten und definieren, als wir es bisher gewohnt waren. Die Barriere müssen wir allein durchbrechen. Keiner kann uns dabei helfen. Jeder muss sein eigenes Selbst, seine eigenen Antworten finden.

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